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Berlin: (hib/STO)Der Gesetzentwurf der CDU/CSU- und der SPD-Fraktion zur Begrenzung der Abgeordnetenzahl bei künftigen Bundestagswahlen (19/22504) ist am Montag bei einer Anhörung des Ausschusses für Inneres und Heimat bei der Mehrheit der Sachverständigen auf Kritik gestoßen. Bei der Veranstaltung stand zugleich ein Vorstoß der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen für ein aktives Wahlrecht ab 16 Jahren (19/13512) auf der Tagesordnung.

Mit ihrem Gesetzentwurf will die Koalition am Wahlsystem der personalisierten Verhältniswahl festhalten, „bei dem die Personenwahl von Wahlkreisbewerbern nach den Grundsätzen der Mehrheitswahl mit der Verhältniswahl von Landeslisten der Parteien kombiniert ist und durch Anrechnung der gewonnenen Direktmandate auf die Listenmandate der Grundcharakter der Verhältniswahl gewahrt wird“. Auch an der mit der Wahlrechtsänderung von 2013 eingeführten Sitzzahlerhöhung zum Ausgleich von Überhangmandaten soll festgehalten werden und „weiterhin eine erste Verteilung der Sitze nach festen Sitzkontingenten der Länder mit bundesweiter Verteilung der Sitze in der zweiten Verteilung“ erfolgen, um eine föderal ausgewogene Verteilung der Bundestagsmandate zu gewährleisten.

Zur „Verminderung der Bundestagsvergrößerung“ soll nach dem Willen der Koalition „mit dem Ausgleich von Überhangmandaten erst nach dem dritten Überhangmandat begonnen“ und ein weiterer Aufwuchs „auch durch Anrechnung von Wahlkreismandaten auf Listenmandate der gleichen Partei in anderen Ländern“ vermieden werden. Dabei soll der erste Zuteilungsschritt so modifiziert werden, „dass weiterhin eine föderal ausgewogene Verteilung der Bundestagsmandate gewährleistet bleibt“. Ferner soll die Zahl der Wahlkreise mit Wirkung zum 1. Januar 2024 – also nach der nächsten Bundestagswahl – von 299 auf künftig 280 reduziert werden,

Zudem soll der Bundestag dem Gesetzentwurf zufolge „unverzüglich“ die Einsetzung einer Reformkommission beschließen, „die sich mit Fragen des Wahlrechts befasst und Empfehlungen erarbeitet“. Dabei soll sie sich laut Vorlage auch mit der Frage des Wahlrechts ab 16 Jahren sowie mit der Dauer der Legislaturperiode befassen und Vorschläge zur Modernisierung der Parlamentsarbeit erarbeiten. Darüber hinaus wird das Gremium nach dem Willen der beiden Koalitionsfraktionen „Maßnahmen empfehlen, um eine gleichberechtigte Repräsentanz von Frauen und Männern auf den Kandidatenlisten und im Bundestag zu erreichen“. Seine Ergebnisse soll es spätestens Mitte 2023 vorlegen.

Professor Bernd Grzeszick, Staatsrechtler an der Universität Heidelberg, wertete die Koalitionsvorlage als „gut vertretbar“. Die von der Koalition geplante Reduzierung der Wahlkreise sei ebenso wie die Anrechnung auf Listenmandate verfassungsrechtlich unproblematisch. Bei der Frage der unausgeglichenen Überhangmandate müsse man auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verweisen, wonach der Gesetzgeber bei einer personalisierten Verhältniswahl „bei einer Hausgröße von 598 bis zu 15 Überhangmandate zulassen kann“.

Joachim Behnke, Friedrichshafener Professor für Politikwissenschaft, kritisierte dagegen, der Koalitionsentwurf sei nicht in der Lage, seinen Zweck einer „deutlichen Reduktion der Vergrößerung des Bundestages“ zu erfüllen. Es sei nicht davon auszugehen, dass eine Vergrößerung des Bundestages mit einer hinreichend großen Wahrscheinlichkeit vermieden wird. So sei eine Verrechnung von Überhang- mit Listenmandaten „nicht besonders hilfreich“, weil dafür gerade bei einer besonders starken Vergrößerung gar keine Listenmandate zur Verfügung stünden. Unausgeglichene Überhangmandate seien seiner Ansicht nach verfassungswidrig und die vorgesehene Reduktion der Zahl der Wahlkreise von 299 auf 280 sei viel zu gering.

Der Augsburger Mathematikprofessor Friedrich Pukelsheim betonte, es verstoße gegen die Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen, wenn Wahlkreissieger wie vorgesehen durch „Mindestsitze“ ersetzt werden sollten. Auch habe ein Gesetz ein „massives Defizit“, wenn darin vorne eine bestimmte Sollstärke für die Abgeordnetenzahl festgeschrieben wird, dann aber Bestimmungen folgen, „die nie dazu führen, dass man die Sollgröße umsetzt“.

Robert Vehrkamp von der Bertelsmann Stiftung sagte, es gehe bei dem Koalitionsentwurf gar nicht mehr um die derzeitige gesetzliche Regelgröße von 598 Abgeordneten. Vielmehr wolle die Koalition lediglich nicht über den derzeitigen Stand von 709 Parlamentariern hinausgehen. Doch auch dieses „eher bescheidene Ziel“ erreiche ihr Gesetzentwurf offensichtlich nicht. Bei Simulationen auf Grundlage aktueller Umfragen und dem Koalitionsentwurf, bei denen man das Stimmensplitting neutralisiere, komme man zu einer Abgeordnetenzahl von 750. Auch sei der Gesetzentwurf der Koalition „verfassungsrechtlich zumindest prekär“ und würde nicht zu einer Verbesserung der geltenden Rechtslage führen.

Professorin Sophie Schönberger, Rechtswissenschaftlerin an der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität, bemängelte, auch wenn man sich schon sehr lange mit dem Wahlrecht befasse, sei es kaum noch möglich“ zu durchdringen, was mit dem Koalitionsentwurf geregelt werden soll. „Von Bürgerverständlichkeit kann da überhaupt gar keine Rede sein“, betonte sie. Auch könne damit ein weiteres Anwachsen des Bundestages nicht verhindert werden.

Der Rechtswissenschaftler Ulrich Vosgerau sagte, „der Minimierungseffekt“ des Koalitionsentwurfs hinsichtlich der Bundestagsgröße wäre bis zur Verringerung der Zahl der Wahlkreise „absolut minimal, wahrscheinlich gar nicht vorhanden“, und auch danach „absehbarerweise sehr gering“. Zudem sei die Koalitionsvorlage „verfassungsrechtlich mehr als zweifelhaft“.

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